Wissenschaft und Führung – die Furcht vor dem Monday-Morning-Quarterback

Immer wieder ist derzeit zu hören und zu lesen, dass sich die Wissenschaftler „einig werden sollen“. Es geht, wie Vieles in diesen Wochen, um neue und sich wandelnde Erkenntnisse über das Virus Sars-CoV-2. Was mich besonders irritiert, ist die Vermischung zweiter Aspekte: die Rolle und Funktionsweise von Wissenschaft und das Wesen der Führung:

Aspekt 1: Wissenschaft funktioniert über Falsifikation

Wissenschaft funktioniert über Falsifikation. Man stellt Fragen an die Natur (in dem Fall an das Zusammenspiel im System Virus und Mensch), erklärt sich die Antworten (aus Experimenten, Studien, Klinik) mittels einer damit passenden Vorstellung. Diese gilt eben nur, bis andere Ergebnisse vorliegen, die einen (nach gründlicher Prüfung) dazu bewegen, dass man seine Vorstellung anpassen oder sogar revidieren muss, um die alten und neuen Ergebnisse zu erklären. Wissenschaft „erzeugt“ also Erkenntnisse, die immer unter dem „Verdacht“ stehen, dass es auch anders sein könnte, aber bis dahin das aktuelle Wissen gilt.

Aspekt 2: Führung gibt Orientierung für das Handeln

Führung bedeutet, Entscheidungen in kritischen Situationen zu treffen, um Orientierung für das Handeln zu geben. Kritische Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass es keine Blaupause, erprobte Verfahren, vorherige Erfahrungen, etc. gibt, nach denen man sich richten könnte. In einer solchen unsicheren Situation koordiniertes Handeln zu erzeugen, bedeutet, unter Unsicherheiten Entscheidungen zu treffen (sich für Nichtstun zu entscheiden ist dabei auch eine Entscheidung). Wenn sich der Entscheidung andere anschließen (weil Vertrauen herrscht, weil man verstanden hat, was die Überlegungen und Unwägbarkeiten sind, weil man es auch nicht besser weiß, weil sich der Entscheider durchsetzt), hat man einen Führungsimpuls gesetzt und für Gefolgschaft gesorgt. Führungsentscheidungen werden also im Nachhinein betrachtet werden, wie sie gewirkt habe – kann das aber zum Zeitpunkt des Entscheidens eben nicht wissen. „Hinterher ist man schlauer“, sagt der Monday-Morning-Quarterback[1].

Entscheiden unter Unsicherheit ist das Wesen der Führung. Solche Orientierung wird in Organisationen und anderen hierarchisch strukturierten Systemen von den „Oberen“ erwartet, auch wenn sie nicht selten auch anderswo erfolgt.

Wenn man nun (beispielsweise von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fächern, Medizinern) verlangt, dass sie sich endlich „einig werden“ sollen, dann verkennt man das Wesen und den Erkenntnisprozess von (Natur-)Wissenschaft. Sie kann lediglich – wenn man sie und sie sich selbst ernst nehmen will – darlegen, was der gegenwärtige Stand der Erkenntnis und der darauf basierenden Modellvorstellungen ist.

Daraus lassen sich mögliche Handlungen ableiten, Empfehlungen aussprechen – diese aber sind dann nicht mehr Teil des wissenschaftlichen Diskurses und spiegeln im Zweifel die Perspektive der Fachrichtung und des Ausschnitts wider, aus dem die Wissenschaftlerin die Ergebnisse deutet. Diese kann sich – insbesondere, wenn es sich um etwas Unbekanntes und durch einen dynamischen Forschungsprozess Gekennzeichnetes handelt – schnell verändern. Es kommen neue Ergebnisse dazu, die die bisherigen Handlungsempfehlungen in neuem Licht erscheinen lassen. Bevor ein Erkenntnisgewinn steht, müssen sich neue Ergebnissen der Überprüfung stellen. Wissenschaft ist ein sachorientierter Kommunikationsprozess, der Zeit braucht. Er kollidiert damit in Situationen wie der aktuellen Pandemie mit der Notwenigkeit, zu Entscheidungen zu kommen.

Personen, die auf Grund ihrer Position in der Situation sind, dass man von ihnen Orientierung (also Entscheidungen) erwartet, müssen mehr (so wie aktuell) oder weniger mit der Unsicherheit leben, dass man morgen im Lichte neuer Ergebnisse zum Ergebnis kommt, dass eine andere Entscheidung (rückblickend!) besser, effektiver oder smarter gewesen wäre. Es nutzt nur nichts, wenn man heute entscheiden muss und sich dabei nur auf das stützen kann, was man heute weiß.

Und täglich grüßt der Monday-Morning-Quarterback

Wenn nun der eine oder die andere darauf hinweist, dass man ihm oder ihr eine sich immer wieder veränderte Faktenlage präsentieren, die ein modifiziertes oder sogar anderes Handeln nahe liegen würden, als man vor einer Woche als geboten darstellte, drückt das die Unsicherheit der Entscheider über die Unsicherheit aus, was „richtig“ ist. Sie denken daran, dass sie sich in der Zukunft rechtfertigen müssen, wie sie zu der oder jener Entscheidung gekommen sind.

Denen, die neue Ergebnisse und daraus folgende mögliche Entscheidungsmöglichkeiten und Konsequenzen darlegen, vorzuhalten, dass man von ihnen keine verlässliche und stabile Grundlage erhält, bedeutet seine Führungsrolle abzugeben. Es wirkt, als wolle man die Verantwortung auf andere übergeben, wenn sich die eigene Entscheidung hinterher als problematisch darstellt und man sich rechtfertigen muss, was einen in der Situation zu der und nicht zu einer anderen Entscheidung geführt hat. Das ist aber keine Führung.

Man darf sich entscheiden, die (Zwischen-)Erkenntnisse von Naturwissenschaftlern als nur eine Perspektive zu sehen, die Sichtweise und Schwerpunkte von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern stärker einzubeziehen, die Erfahrungen von Kliniken und Ärzten zu berücksichtigen oder die Wünsche unterschiedlicher Interessensgruppe stärker oder schwächer zu gewichten, daraus eine „mittlere“ Richtung vorzugeben oder abzuwarten. Man darf unterschiedliche Meinungen haben, die man in den Diskurs stellen kann. Man darf auf Grund der Ergebnisse und Interessen zu verschiedenen Entscheidungen kommen, für diese werben, sie verständlich machen, versuchen, sie durchzusetzen.

Aber von jemand, der die Rolle hat, aus einem dynamischen Forschungsprozess, Erkenntnisse zu gewinnen, sie zu prüfen, darauf basierend Empfehlungen auszusprechen, stabile nicht mehr veränderliche Entscheidungsgrundlagen zu bekommen (sich also zu einigen), damit man dann „nur“ noch entscheiden muss, was sie gesagt haben, bedeutet (mindestens zum Teil) eine Aufgabe der Führungsverantwortung.

[1] Das Oxford English Dictionary definiert dem „Monday-Morning-Quarterback“ als eine Person, die im Nachhinein ein Urteil fällt und etwas kritisiert.

Dr. Wolfgang Karrlein

Zum Weiterlernen: Die Liste unserer Veröffentlichungen

Managementtheorien entwickeln sich weiter. Neue Methoden kommen, alte verschwinden wieder und manche sind gekommen, um zu bleiben. Nachfolgend eine Zusammenstellung unserer Veröffentlichungen, deren Themen uns besonders am Herzen liegen oder deren Methoden wir als besonders wirksam erlebt haben.

Serious Games / Business-Simulationen

Serious Games, auch Business-Simulationen lassen sich vielfältig einsetzen. Gerade bei den Themen, die Organisationen heute umtreiben und Führungskräfte beschäftigen. So helfen sie mit, Silodenken aufzubrechen, für die Weiterentwicklung notwendige Diskurse in Gang zu bringen oder auch Verständnis für die Nachbarabteilungen zu entwickeln. Denn die Serious Games simulieren die Folgen von Entscheidungen und können so Abhilfe schaffen.

VUCA

Die Dynamik unserer Zeit macht es Unternehmen zunehmend schwerer, sich zu positionieren. Das Akronym VUCA, das für „Volatility“ (Volatilität), „Uncertainty“ (Unsicherheit), „Complexity“ (Komplexität) und „Ambiguity“ (Mehrdeutigkeit) steht, beschreibt dabei beispielsweise die sich ändernde Geschäftsdynamik bei der Digitalisierung. Diese gilt oftmals als Ausweg, wird aber zum Bumerang, wenn sie rein technisch gesehen wird. Und wie reagieren die Menschen darauf?

Digitalisierung

Die Digitalisierung ist nach wie vor ein schwieriges Thema in Unternehmen. Es gibt zu viele Assoziationen, die Furcht einflößen: Big Data, Vernetzung, Industrie 4.0, Datensicherheit, digitales Lernen … Das führt zu Komplikationen, nicht nur beim digitalen Lernen. Auch hier haben wir uns mit unterschiedlichen Themen auseinandergesetzt und dazu einige Fachartikel verfasst:

Working Out Loud

Working Out Loud (WOL) ist groß in Mode. Aber was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Mit WOL wird die eigene Arbeit für andere sichtbar gemacht. Aber nicht, damit man zeigt, wie gut man ist und wieviel man leistet, sondern damit andere von der eigenen Arbeit profitieren und lernen können. Neben vielen Chancen wie einer verbesserten bereichsübergreifenden Zusammenarbeit lauern bei dieser Managementmethode aber auch einige Risiken auf die Anwender.
Wir haben uns in mehreren Beiträgen intensiv mit diesem Thema beschäftigt und die wichtigsten Fakten zusammengestellt.

Führung

Auch zu einigen allgemeinen Fragen der Führung sind Fachartikel von uns verfügbar. Nachfolgend die wichtigsten Beiträge:

  • Fragen und Zuhören: Das macht eine gute Führungskraft aus
    Wird eine Abteilung oder ein ganzes Unternehmen schlecht geführt, nähert sich die Stimmung schnell dem Nullpunkt und die Mitarbeiterfluktuation steigt rapide an. Doch was zeichnet eine gute Führungskraft aus?
  • Der allwissende Chef hat ausgedient
    Der Business-to-Business-Bereich ist im Wandel. Externe Einflüsse wie das industrielle Internet der Dinge (IIoT) oder die Industrie 4.0 zwingen Firmen zur Veränderung. Aber wie gelingt das, ohne dass die menschliche Seite auf der Strecke bleibt? Darüber hat Sarah Gandorfer von der IT-Business mit Dr. Wolfgang Karrlein, dem Geschäftsführer von CANMAS, gesprochen.
  • Shared Leadership – ein Führungsansatz in unserer volatilen Welt.
    Wir leben in einer VUCA-Welt. Wie können Führungskräfte darauf reagieren und ihr Unternehmen auf Kurs halten? Shared Leadership, die Einbeziehung und das Empowerment vieler und das Zulassen offener Diskurse, ist ein vielversprechender Ansatz. Dieser Beitrag ist in zwei Teilen erschienen. Den ersten Teil finden sie hier und den zweiten Teil hier.
  • Tabus und blinden Flecken erfolgreich mit Diskursen begegnen.
    Oftmals werden Schwierigkeiten in Organisationen mit einer Veränderung der Unternehmenskultur bekämpft. Dies greift aber vielfach viel zu kurz und Tabus und blinde Flecken verstärken die Problematik zusätzlich. Business Simulationen, die in einem hohen Maße von Diskursen leben, sind hier ein wirksames Mittel.

Nachhaltigkeit statt Optimierung

Lineare Rezepte passen nicht mehr in die Zeit steigender Komplexität und zunehmender Vernetzung. Die Evolution ist gerade dabei, sie auszumustern.

In seinem Buch „Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“[1] erzählt Hartmund Rosa eine sehr schöne Geschichte:

„Gustav und Vincent, zwei begabte Nachwuchskünstler, nehmen an einem Malwettbewerb teil. Sie haben zwei Wochen Zeit, ein Bild zu einem selbstgewählten Thema zu malen und es dann bei einer Jury einzureichen. Gustav nimmt die Aufgabe sehr ernst. Er weiß, was man zum Malen braucht und wie sich die Qualität eines Bildes steigern lässt: Zunächst besorgt er sich eine stabile Staffelei und die richtige Beleuchtung. Dann macht er sich auf die Suche nach einer hochwertigen Leinwand. Als er sie gefunden hat, bemüht er sich da­rum, sein Arsenal an Pinseln zu erweitern – er benötigt noch welche für die ganz feinen Linien und für die groben Striche. Nun fehlen ihm noch die richtigen Farben – die leuchtenden und die gedeckten und die matten und die glänzenden und solche, mit denen er die Zwischentöne beliebig anpassen kann. Dann hat er alles, was er braucht. Er repetiert noch einmal kurz die wichtigsten Maltechni­ken, die er einzusetzen gedenkt, und macht sich dann auf die Suche nach dem richtigen Thema. Was überzeugt ihn? Was begeistert ihn? Was trifft den Nerv der Zeit und ist dennoch nicht platt? Als er schließlich zu malen beginnt, sinkt schon die Sonne des letzten Tages vor Ablauf der Frist. Kürzer ist die Geschichte von Vincent: Er reißt ein Papier von seinem Zeichenblock, holt seinen Wasserfarbkasten, spitzt die Bleistifte, legt seine Lieblings-CD ein und beginnt zu malen: Zunächst ohne klare Vorstellung davon, was er da malt, entsteht nach und nach eine Welt voll Farben und Formen, die ihm stimmig erscheint. Wer wohl den Wettbewerb gewonnen haben mag?“

Bild mit Malutensilien und weißem Papier. Über die Suche nach der richtigen Technik und der richtigen Ausrüstung kommt eventuell die Kreativität zu kurz: Die Leinwand bleibt weiß.
Über die Suche nach der richtigen Technik und der richtigen Ausrüstung kommt eventuell die Kreativität zu kurz: Die Leinwand bleibt weiß.
Bild: avramchuck / Fotolia

Analyse und Optimierung – heute noch aktuell?

Auf Unternehmen übertragen, klingt die Vorgehensweise von Gustav vertraut: wir haben seit der Industrialisierung diese Vervollkommnung der Vorgehensweisen und des Materialeinsatzes immer weiter auf die Spitze getrieben. Wir sind zu Meistern geworden, Instrumente, Methoden und Prozesse zu analysieren, um immer mehr Optimierungspotenzial zu entdecken. Mal drehen wir eine Organisation daraufhin von links nach rechts – ein paar Jahre später von rechts nach links. Im besten Fall unter Berücksichtigung von Lerneffekten aus der vorangegangenen „Rechtsdrehung“. Solche Drehungen der Optimierungsspirale wirken aber wie ein Hamsterrad und es beschleicht einem das Gefühl, dass alles schon einmal gehört und gesehen zu haben. Dieser Eindruck trügt nicht. Die einzige Veränderung liegt darin, dass jedes Mal andere Menschen an der Spitze stehen, die allerdings wie ihre Vorgänger gebetsmühlenhaft wiederholen: „Jetzt wird alles besser!“

Grundsätzlich ist eine Überprüfung der aktuellen Geschäftssituation mit Blick auf Ressourcen, welcher Art auch immer, sinnvoll und richtig. Es scheint mir nur, dass diese starke, fast einseitige Fixierung auf Vervollkommnung der Prozesse und Techniken den Blick allzu stark einschränkt. Was wir übersehen sind die Begrenzungen, die dieser Tunnelblick provoziert. Dadurch übersehen wir neue Potenziale. Dadurch töten wir Kreativität.

Der Glaube an diese linearen Optimierungen als DAS richtige und einzige Vorgehen führt aber dazu, dass wir immer mehr Ressourcen hineinpacken müssen. Obwohl wir alle eigentlich wissen, dass Ressourcen – materielle wie immaterielle – auf gar keinen Fall unbegrenzt steigerbar sind. In dem bei uns weitgehend vorherrschenden Wettbewerb sind wir dessen Logik folgend aber gezwungen, Ressourcen immer weiter zu steigern, um im Spiel bleiben zu können (es gibt immer Maler, die noch bessere Materialien einsetzen als Gustav).

Bild zeigt aktive Nervenzellen. Vernetzung und Komplexität in der Geschäftswelt steigen und erinnern immer mehr an Nervenzellen Bild: adimas / Fotolid
Vernetzung und Komplexität in der Geschäftswelt steigen und erinnern immer mehr an Nervenzellen
Bild: adimas / Fotolia

Vernetzung und Komplexität erschweren die Vorhersagbarkeit

Durch die spürbar steigende Komplexität der Geschäftswelt und durch die dynamisch wachsende Vernetzung wird das Umfeld von Unternehmen nicht mehr linear vorhersehbar, dazu finden die Veränderungen in zu rascher Abfolge statt. Entwicklungen sind nur noch kurzfristig prognostizierbar. Wir wenden aber immer noch lineares Denken und Planen an, das aber immer weniger zur Realität passt. Bisher waren wir mit diesem, uns zudem sehr vertrauten, Ansatz ja auch sehr erfolgreich, aber nun passt er halt nicht mehr zur Realität.

Die Neurologie hat festgestellt, dass die Wiederholung von Alterprobten zum Überleben evolutionär sinnvoll ist. Was sich bewährt, wird selektiert und verstärkt sich über die Zeit. Darin liegt aber auch eine Quelle für mögliches, zukünftiges Scheitern. Verändert sich das Umfeld, können eingeübte Verhaltensweisen auf einmal ihren Sinn verlieren. Dies zu erkennen und loszulassen, um offen und neugierig nach neuen Strategien zu suchen, und sie auszuprobieren, kostet Überwindung und viel Energie.

Nehmen wir das nicht ernst, hecheln wir mit immer panischeren Anpassungen und planerischen Hakenschlägen einer Entwicklung nach, auf die unsere Rezepte einfach nicht mehr zutreffen.

Gibt es Alternativen?

Ja, es gibt Alternativen, aber sie verlangen eine Abkehr vom bisherigen Tun und Handeln, das Verlassen von ausgetreten Pfaden, so schwierig das auch sein mag. Denn, es wird immer wieder vergessen, dass in den Prozessen und den Geschäftsmodellen immer noch Menschen arbeiten, die diese verstehen, (mit-) tragen und leben müssen, also letztlich zu einem hohen Grad von diesen überzeugt sein müssen. Die soziale Innovation, d.h. der Umgang mit Menschen, bleibt immer noch zu oft und zu sehr außen vor. Menschen sind in diesem Weltbild eben auch nur Ressourcen.

Bild zeigt grünen Kristallglobus auf Moos. Nachhaltigkeit ist eine Alternative zur linearen Denkweise Bild: iStock.com / RomoloTavani
Nachhaltigkeit ist eine Alternative zur linearen Denkweise
Bild: iStock.com / RomoloTavani

Es geht aber auch anders. Der Organisationstheoretiker Thomas W. Malone vom MIT sieht zum Beispiel für die nächsten Jahre weniger technische Innovationen als entscheidend an, sondern vielmehr, wie Zusammenarbeit (auch mittels Technologie) anders organisiert werden kann. Diese Ansicht geht Hand in Hand mit der Erkenntnis, dass technische Innovationen heute zu sehr verengt gedacht und implementiert werden, in dem einfach nur Geschäftsmodelle und Prozesse verändert werden. Das entspricht der ressourcenoptimierenden Denkhaltung.

Ein weiteres Beispiel ist The Natural Step, eine NGO-Initiative aus Schweden, die einen systematischen Ansatz unter der Perspektive von nachhaltigem Wirtschaften verfolgt. Bereits 1989 gegründet, formulierte The Natural Step vier Prinzipien der Nachhaltigkeit.

Eines davon bezieht sich auf die soziale Nachhaltigkeit von Gesellschaften. Es lässt sich auch gut auf Unternehmen bzw. unternehmerische Strukturen übertragen. Demnach „erfahren Menschen keine systematischen Hindernisse in Bezug auf Gesundheit, Einfluss, Kompetenz, Unvoreingenommenheit, Sinnstiftung.“[2]

Dieses Prinzip kann als Richtschnur für eine potenzialorientierte Unternehmensführung dienen. Es gibt immer mehr empirische Hinweise darauf, dass Partizipation ein wesentliches und bestimmendes Merkmal zukünftig erfolgreicher Unternehmen sein wird.

Zur Partizipation gehören zum Beispiel:

  • Aktive und echte Beteiligung an Ideenfindungen und Entscheidungen
  • Empowerment, also das Überantworten von Spielräumen an Mitarbeiter
  • Transparenz, als Grundlage für neue Ideen, kreative Möglichkeiten

Für die Menschen (Führungskräfte wie Mitarbeiter) bedeutet das:

  • Die Wiederentdeckung der eigenen Neugier: Es heißt, dass Kinder 400 Fragen am Tag stellen[3] – wie viele stellen wir heute noch? Nicht umsonst empfiehlt der amerikanische Autor Warren Berger[4] den Unternehmen mehr Fragen zu stellen.
  • Eine Haltung entwickeln, in der (ehrlich gemeintes) Feedback als hoch wirksames Motivationsinstrument angewendet wird und damit Engagement erzeugt.

Resonanz – nicht nur in der Musik

Wir sind mit dem kleinen Beispiel von Hartmut Rosa über die Malerei in diese Betrachtung eingestiegen. Ein musisch-physikalisches Beispiel soll zum Abschluss dieses Blogs als Bild für die vorangegangenen Überlegungen stehen: Partizipation ist der Resonanz recht verwandt. Resonanz entsteht zwischen zwei Stimmgabeln (gleicher Frequenz), wenn die eine schwingt. Dies überträgt sich auf die Andere, die auch dann weiter schwingt, wenn die Erste verstummt. Beide Stimmgabeln sind offen, um auf die Impulse der anderen zu antworten, aber immer noch eigenständig, um auch alleine zu schwingen zu können. In diesem Sinne brauchen wir in Unternehmen mehr Resonanz.

[1] Rosa, Hartmut, Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung, Seite 15; 2016 Suhrkamp Verlag, Berlin

[2] http://www.thenaturalstep.org/our-approach

[3] http://www.sv-lex.de/aktuelles/nachrichten

[4] http://www.fastcodesign.com/1671756/the-5-questions-every-company-should-ask-itself

Einfache Komplexität und die Führung

Haben Sie Lust auf ein kleines Experiment? Es gibt dabei etwas zu gewinnen: nämlich einen Gedankenanstoß, was die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung (Stichworte: Internet of Things / IoT, Industrie 4.0, mobiles Internet, usw.) für das Führungsverhalten bedeutet.

Führung in Zeiten der Komplexität

Immer wieder liest und hört man, dass unsere Welt verstärkt komplexer wird. Der ursprünglich in den neunziger Jahren vom amerikanischen Militär geprägte Ausdruck VUCA (Volatility / Volatilität – Uncertainity / Unsicherheit – Complexity / Komplexität – Ambiguity / Ambiguität) wird heute in der Wirtschaft als Akronym für diese Entwicklung verwendet. Von dem, was mit Digitalisierung und Vernetzung gemeint ist, wird (zu Recht) abgeleitet, dass es zu Systemen führt, die aufgrund ihrer Komplexität nicht mehr verlässlich vorhersagbar sind. Vielfach geht man in der (derzeit) gängigen Vorstellung von Management und Strategie davon aus, dass die Entwicklung weiterhin mehr oder weniger (linear) planbar ist. Auch Führung wird noch immer als durch das Highlander-Prinzip („Es kann nur einen geben“) beschrieben verstanden. Dieser „Eine“ legitimiert sich durch besseres Wissens und weiter reichende Vorausschau als derjenige, der die Richtung vorgibt. Und es wird dabei erwartet, dass alle die Überlegungen verstehen und nachvollziehen können und dann folgen. Oder, wenn das nicht der Fall ist, dennoch gehorchen und folgen. Nur, in der „VUCA-Welt“ funktioniert das immer weniger.

Das Experiment

Um das Phänomen der Komplexität an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen, möchte ich hier ein kleines Experiment mit Ihnen machen. Stellen Sie sich vor, Sie diskutieren nacheinander mit zwei Menschen. Weil es Ihnen wichtig ist, dass Ihr Gesprächspartner auch versteht, was Sie von ihm wollen, fragen Sie nach, was er verstanden hat. Dabei sollen Ihre Anliegen mit A, B, C oder D repräsentiert werden. Die andere Person gibt in ihren Worten wieder, was sie erfasst hat. Dies wird durch 1, 2, 3 und 4 repräsentiert. Dabei entspricht A 1, B 2, C 3 und D 4. Wenn Sie also A sagen und die Person 1 verstanden hat, passt das.[1]

Bei der ersten Person nimmt das Gespräch bezüglich des Verständnisses den folgenden Verlauf:

Die Kommunikation zwischen Ihnen und der Person 1 ist eindeutig und nachvollziehbar. Auf jedes Vorhaben wird mit dem gleichen Verständnis geantwortet.
Die Kommunikation zwischen Ihnen und der Person 1 ist eindeutig und nachvollziehbar.

Wenn Sie nun erneut A sagen, was wird wohl die Person verstehen?

Nun zur zweiten Person. Hier verläuft die Konversation so:

Die Kommunikation mit der Person 2 scheint gestört zu sein, läßt sich doch das Antwortverhalten nicht eindeutig vorhersagen. Daher läßt sich die Antwort auf die Frage "A" auch nicht prognostizieren.
Die Kommunikation mit der Person 2 scheint gestört zu sein, läßt sich doch das Antwortverhalten anscheinend nicht eindeutig vorhersagen.

Zunächst ist offensichtlich alles in Ordnung. Aber bei C beginnt ein Bruch im Verständnis. Und selbst wenn Sie dann B nochmals erklären, hat es den Anschein, dass Ihr Gegenüber dies anders versteht, als beim ersten Mal. Mit der ersten Person scheint es eine gute Verständigung zu geben. Die Reaktion (d.h. das Verständnis) ist recht gut vorhersagbar. Bei der Zweiten sieht es so aus, als ob in der Kommunikation etwas nicht stimmt. Seien Sie versichert, dass die zweite Person weder boshaft, noch statistisch oder chaotisch ist. Sie handelt bzw. versteht nach einem klaren inneren Schema (nennen wir es mal Motivation). Nur, Sie kennen es nicht und sind daher überrascht.

Sieht man mal davon ab, was das Beispiel für das „Motivieren“ von Menschen aussagen könnte, so zeigt es sehr eindrücklich, wie schnell eine eigentlich einfache Sache komplex und schwer vorhersagbar wird.

Komplexität erzwingt neue Führungsqualitäten

Die Auflösung des zweiten Beispiels ist: Die Person hat zwei „innere Zustände“ (Motivation). In welchem Zustand sich Ihr Gesprächspartner befindet, hängt jetzt von Ihrer gemeinsamen Vorgeschichte bzw. dem Verlauf bisheriger Kommunikation ab. Damit sind Sie beide gekoppelt und es entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit. Bevor ich Ihnen nun die „Antwort“ gebe, möchte ich noch schnell erläutern, was das kleine Beispiel für die Trends und Veränderungen bedeutet, über die eingangs gesprochen wurde:

Der (zweite) Fall hat deutlich gemacht, wie schnell hohe Komplexität und Unvorhersehbarkeit entsteht. Die immer schneller werdende Vernetzung von (heute schon) digitalisierten Maschinen, Prozessen u.ä., die Globalisierung und alles was an Folgeeffekten daran hängt, führen dazu, dass sich auch unser Bild insbesondere der Führung (also dem Umgang mit Menschen) verändern muss. Die Bertelsmann Stiftung hat als Beispiel dafür verschiedene Organisations- und Führungsqualitäten in ihren bisherigen und künftig notwendigen Ausprägungen gegenübergestellt [2].

Zukünftige Führung benötigt andere Qualitäten und Qualifikationen (Quelle: Bertelsmann Stiftung: Zukunftsfähige Führung).
Zukünftige Führung benötigt andere Qualitäten und Qualifikationen (Quelle: Bertelsmann Stiftung: Zukunftsfähige Führung)[2].
Es kommt dabei klar heraus, dass die früheren Qualitäten konträr zu den Qualitäten stehen, die im künftigen Umfeld von den Unternehmen und den Menschen in den Organisationen benötigt werden.

Motivation ist des Rätsels Lösung

Jetzt zurück zu unserem Gedankenexperiment: Die zweite Person ist also unterschiedlich „motiviert“, je nachdem welche Aufgabe sie gestellt bekommt. Dadurch wird ihr Verständnis beeinflusst. Ich symbolisiere die beiden inneren Zustände mit einem Quadrat bzw. mit einem Dreieck – siehe Tabelle. Der Wechsel zwischen diesen beiden Motivationsausprägungen (Quadrat und Dreieck) hängt von der Vorgeschichte ab. Wie, das zeigt folgende Tabelle. Und daraus sehen Sie, dass die Person 2 Ihnen zwar „komplizierter“ erscheint als die erste (weil Sie die inneren Befindlichkeiten und die Dynamik, also den Wechsel von einem Zustand in den anderen nicht kennen). Sie ist aber immer noch einfach, denn sie besitzt eine klare und eindeutige (innere) Struktur, auch wenn diese für Sie zunächst im Dunkeln bleibt.

Dieses Bild zeigt, dass nach gewissen Vorhaben ein Wechsel in einen anderen Motivationszustand erfolgen kann, die Antworten jedoch immer einem klaren Schema folgen.
Beachtet man die verschiedenen Motivationszustände der Person 2, wird klar, dass auch deren Verständnis einem klaren inneren Schema folgt.

Mit dieser Einsicht wird klar, dass mit dem „D“ und der Antwort 4 ein erneuter Wechsel der inneren Einstellung („Motivation“) erfolgt (in den „Zustand“ Dreieck) und daher die Reaktion auf das Anliegen ›A‹ die Antwort 4 sein wird.

Viel schwieriger wird es, wenn Sie zu Menschen sprechen, die eine Vielzahl an „inneren Zuständen“ (Gefühle, Interessen, Auffassungsgabe, etc.) haben. Damit müssen Sie bei der Führung zurechtkommen.

Zusammenfassend kann man also folgendes sagen: die Umwelt, in der sich unsere Unternehmen und Organisationen zukünftig bewegen müssen, sind dynamisch und komplex. Um mit dieser Komplexität sinnvoll umzugehen, brauchen Sie Menschen in Ihrem Unternehmen, mit denen Sie den Weg Ihres Unternehmens beim Gehen finden. UM die Menschen dazu zu gewinnen, sich aktiv einzubringen, ist eine andere Art und Haltung bei der Führung notwendig und zwingend erforderlich. Da Führung zwischen Menschen über Kommunikation passiert und Menschen ebenfalls komplexe „Wesen“ sind, ist diese andere Art der Führung elementar wichtig, um in der raschen Dynamik unserer Märkte und Entwicklung erfolgreich zu navigieren.

[1]angelehnt an: Foerster, H. von (1988). Abbau und Aufbau. In: F. B. Simon (Hrsg.) (1977): Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktion in der systemischen Therapie., Taschenbuchausgabe, Frankfurt (Suhrkamp)

[2] Gebhard B., Hofmann, J., Roehle H. (2015): Zukunftsfähige Führung. Bertelsmann Stiftung (http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/zukunftsfaehige-fuehrung/).